Familienrecht
Tickende Zeitbombe: der „eingeschlafene“ Titel
Wenn Eltern und Kinder, vertreten durch den anderen Elternteil, vor Gericht um Unterhalt streiten, enden die Gerichtsverfahren entweder durch gerichtlichen Beschluss oder im Fall der Einigung der Beteiligten durch einen gerichtlichen Vergleich. Gerichtliche Beschlüsse und Prozessvergleiche stellen Titel i. S. d. §§ 704, 794 ZPO dar. Aber auch Jugendamtsurkunden über die Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Zahlung von Unterhalt sind Titel, aus denen die Zwangsvollstreckung betrieben werden kann, sofern der Unterhaltsschuldner nicht zahlt.
Hier lauern für den unterhaltspflichtigen Elternteil Risiken, wie der nachfolgende Fall zeigt:
Der minderjährige Sohn hatte, vertreten durch die Kindesmutter, vor Gericht seinen Vater auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch genommen. Das Verfahren endete durch einen Beschluss, mit welchem der Vater zur Zahlung von Unterhalt an seinen Sohn verpflichtet wurde. Der Vater zahlte in der Folge regelmäßig den titulierten Unterhalt. Mit der Volljährigkeit seines Sohnes stellte der Vater seine Zahlungen ein, weil er davon ausging, dass sein Sohn ab Volljährigkeit keinen Anspruch mehr auf Unterhalt habe. Der volljährige Sohn war zeitweise berufstätig, nahm aber keine Ausbildung auf. Aus dem Titel machte er keinen weiteren Unterhalt geltend. Einige Jahre später vollstreckte der Sohn plötzlich den rückständigen Unterhalt, der sich mittlerweile auf mehrere tausend Euro belief. Wie kann der Vater sich gegen die Zwangsvollstreckung wehren?
Was der juristische Laie nicht im Blick hat, ist folgendes:
Materiell-rechtlich hat der volljährige Sohn, der keine Ausbildung macht, keinen Unterhaltsanspruch. Selbst, wenn der Sohn eine Ausbildung machen würde und ein Unterhaltsanspruch dem Grunde nach noch bestünde, verändert sich die Unterhaltsberechnung, da ab Volljährigkeit beide Eltern anteilig nach ihren Einkommensverhältnissen für den Unterhalt haften und das Kindergeld ab Volljährigkeit des Kindes voll auf dessen Unterhaltsanspruch angerechnet wird. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der einmal erschaffene Unterhaltstitel auch über die Volljährigkeit hinaus weiter Wirkung hat. Viele Unterhaltsschuldner gehen irrig davon aus, dass der Unterhaltstitel sich mit Volljährigkeit des Kindes von selbst erledigt, ein Trugschluss!
Der Unterhaltsschuldner könnte einen Vollstreckungsgegenantrag stellen und einwenden, die nunmehr geltend gemachten Rückstände seien verwirkt. Nach der neueren Rechtsprechung des BGH reicht aber eine bloße Untätigkeit des Berechtigten oder ein bloßes Unterlassen von Vollstreckungsmaßnahmen nicht aus, um das für die Verwirkung erforderliche Umstandsmoment zu erfüllen. Der BGH argumentiert, dass einseitiges Verhalten des Gläubigers – das Unterlassen von Vollstreckungsmaßnahmen – nicht ausreicht, um beim Schuldner einen Vertrauenstatbestand dahin zu schaffen, dass kein Unterhalt mehr geltend gemacht werde.
Der Unterhaltsschuldner könnte versuchen, den Titel durch ein Abänderungsverfahren gem. § 238 FamFG aus der Welt zu schaffen. Allerdings ist eine rückwirkende Abänderung unzulässig. Die Abänderung ist gem. § 238 Abs. 3 Satz 1 erst zulässig für den Zeitraum ab Zustellung des Abänderungsantrags an die Gegenseite.
Praxistipp:
Dem Unterhaltsschuldner ist zu empfehlen, zeitnah nach der Volljährigkeit des Kindes ein Auskunftsverlangen an das Kind in Form einer sog. „negativen Mahnung“ zu richten. Das Schreiben sollte die Aufforderung an das Kind enthalten, vollständig auf den titulierten Unterhalt zu verzichten verbunden mit der Aufforderung, den Titel herauszugeben.
Gibt das volljährige Kind den Titel an den Unterhaltsschuldner heraus, kann keine Zwangsvollstreckung daraus mehr drohen. Reagiert das volljährige Kind nicht auf die „negative Mahnung“ und sieht der Unterhaltsschuldner sich wider Erwarten gleichwohl Jahre später mit der Zwangsvollstreckung aus dem Titel konfrontiert, greift zu seinen Gunsten § 238 Abs. 3 Satz 3 FamFG: Dieser ermöglicht dem Unterhaltsschuldner in einem zu führenden Abänderungsverfahren eine materielle Abänderung rückwirkend auf den ersten des Monats, der auf den Zugang des Auskunftsverlangens folgt, durchzusetzen.
Beruht die Unterhaltsverpflichtung dagegen nicht auf einer gerichtlichen Entscheidung, sondern auf einem Vergleich, einer Jugendamtsurkunde oder einer notariellen Urkunde, ist für ein Abänderungsverfahren nicht § 238 FamFG einschlägig, sondern § 239 FamFG. In diesem Fall gibt es keine Rückwirkungssperre, vielmehr kann hier eine rückwirkende Abänderung auf den Zeitpunkt des abändernden Ereignisses- also der Volljährigkeit- erreicht werden. Aus taktischen Gründen ist aber auch in diesem Fall ein vorgerichtliches Verzichtsverlangen an das volljährige Kind ratsam. Andernfalls könnte das Kind im Abänderungsverfahren ein sofortiges Anerkenntnis erklären und sich darauf berufen, es habe keine Veranlassung zur Einleitung eines Gerichtsverfahrens gegeben. Der Vater hätte dann – auch wenn er inhaltlich Recht bekommt und das Gericht seine Unterhaltsverpflichtung auf Null herabsetzt -gleichwohl gem. § 243 Nr. 4 FamFG die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Wichtige Quintessenz: Unterhaltstitel – sofern sie nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt befristet sind- erledigen sich nicht von selbst und insbesondere nicht dadurch, dass das Kind volljährig geworden ist und materiell-rechtlich keinen Anspruch auf Unterhalt mehr hat. Um Risiken und böse Überraschungen zu vermeiden, ist dem Unterhaltspflichtigen dringend anzuraten, sich anwaltlich beraten zu lassen und rechtzeitig die richtigen Schritte zu unternehmen, um diese Zeitbombe zu entschärfen.
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