Familienrecht
Sorgerecht bei Schulverweigerung durch Eltern
In Art. 6 Abs. 2 GG heißt es: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Der Staat als Wächter steht im 2. Rang, erst, wenn eine Kindeswohlgefährdung droht, darf er handeln, Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Schädigung des geistigen, körperlichen oder seelischen Wohls des Kindes zu erwarten ist.
Liegen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, hat das Familiengericht gem. § 1666 BGB die Möglichkeit, die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Zu diesen Maßnahmen gehören u. a.
- Gebote, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen,
- Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
- Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen,
- der teilweise oder vollständige Entzug der elterlichen Sorge.
Das OLG Karlsruhe hatte in seinem Beschluss vom 16.08.2022, Az. 5 UFH 3/22 zu beurteilen, ob eine Kindeswohlgefährdung bei Schulverweigerung durch die Eltern vorliegt und welche Maßnahmen in einem solchen Fall zu treffen sind.
In dem zu entscheidenden Fall waren die verheirateten Eltern gemeinsam sorgeberechtigt für ihren 7jährigen Sohn. Dieser wurde im September 2021 eingeschult, ist aber zu keinem Schultag erschienen.
Wegen des fehlenden Schulbesuchs wandte sich die Schule an das Jugendamt. Dieses regte beim Familiengericht ein Verfahren gem. § 1666 BGB an. Zu der vom Familiengericht vorgesehenen Anhörung wurde das Kind krankgemeldet, für den Folgetermin erneut. Die Eltern wurden am 21.04.2022 angehört. Sie erklärten, sie würden das Kind nach den Osterferien (ab 25.04.2022) in die Schule schicken. Tatsächlich besuchte das Kind bis zu den Sommerferien 2022 keine Schule.
Mit Beschluss vom 18.05.2022 erteilte das Familiengericht den Eltern das Gebot, für eine regelmäßige Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Gegen diesen Beschluss legten die Eltern Beschwerde zum OLG Karlsruhe ein. Dieses ergänzte den Beschluss des Familiengerichts um weitere folgende Maßnahmen:
- die elterliche Sorge wird den Kindeseltern hinsichtlich der schulischen Angelegenheiten und des Aufenthaltsbestimmungsrechts an Schultagen für die Dauer der Unterrichtszeigen entzogen,
- das Jugendamt wird zum Ergänzungspfleger bestellt,
- die Eltern werden verpflichtet, das Kind jeweils an den Schultagen an den Ergänzungspfleger herauszugeben,
- zur Vollstreckung der Herausgabeverpflichtung darf unmittelbarer Zwang angewendet werden.
Zur Begründung führte das OLG zunächst aus, dass die Eingriffsbefugnisse des § 1666 BGB nicht bezwecken, dem Kind eine optimale oder auch nur durchschnittliche Erziehung und Entwicklung zu ermöglichen, sondern lediglich, nicht mehr vertretbare Gefahren und Schädigungen von ihm abzuwenden. Begrenzte persönliche und wirtschaftliche Möglichkeiten und Verhältnisse müsse das Kind in gewissem Umfang als Schicksal tragen. Das Bundesverfassungsgericht hat den legendären Satz geäußert: „Das Schicksal der Kinder sind ihre Eltern.“
Das OLG führt ferner aus, der Staat müsse wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen. Im Fall der Schulverweigerung sei das Erziehungsrecht der Eltern durch die allgemeine Schulpflicht beschränkt. Diese diene dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richte sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richte sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenzen und Durchsetzungsvermögen könnten effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit Personen außerhalb des eigenen Haushalts nicht nur gelegentlich stattfänden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahren seien. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft könne die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog nachhaltig fördern.
Danach lagen im konkreten Fall tatsächliche Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls vor. Die Eltern hatten über ein vollständiges Schuljahr hinweg nicht für den Schulbesuch ihres Sohnes gesorgt. Damit würden sie die Entwicklung des Kindes und dessen gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft gefährden. Im Übrigen waren ausreichende Anhaltspunkte, dass die Eltern auch ohne Schulbesuch – etwa durch Homeschooling- für eine umfassende Bildung des Kindes sowohl hinsichtlich kognitiver wie sozialer Kompetenzen sorgen wollten oder könnten, nicht ersichtlich.
Schließlich seien auch die angeordneten Begleitmaßnahmen verhältnismäßig. Zwar könne die gewaltsame Herausnahme des Kindes für den Schulbesuch zu einer erheblichen Traumatisierung des Kindes führen. Das OLG ging aber davon aus, dass sich eine tägliche gewaltsame Herausnahme nicht über mehrere Wochen des Schulbesuchs erstrecken werde, da entweder die Eltern den Schulbesuch des Kindes akzeptieren oder eine vollständige Herausnahme des Kindes aus der Betreuung durch die Eltern zu erwägen sein werde.
Wenn Eingriffe in das verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht drohen, ist dringend zu empfehlen, möglichst frühzeitig anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Häufig lassen sich einvernehmliche Regelungen in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt erzielen, bevor das „Kind in den Brunnen gefallen“ und eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist.
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