Familienrecht
Darf ein ungelernter Unterhaltspflichtiger eine Ausbildung beginnen?
Gem. § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Gegenüber minderjährigen Kindern trifft den Unterhaltsschuldner eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit. Ein verschärft haftender Unterhaltspflichtiger hat sich intensiv, also unter Anspannung aller Kräfte und Ausnutzung aller vorhandenen Möglichkeiten um die Erlangung eines hinreichend entlohnten Arbeitsplatzes zu bemühen. Er muss alle verfügbaren Mittel für den Unterhalt seiner Kinder verwenden, alle Erwerbsmöglichkeiten ausschöpfen und auch einschneidende Veränderungen in seiner eigenen Lebensgestaltung in Kauf nehmen, um ein die Zahlung des Mindestunterhalts sicherstellendes Einkommen zu erzielen. Bei Arbeitslosigkeit hat sich der Pflichtige durch intensive Suche um eine Stelle zu bemühen, bei Arbeitsstellen mit geringem Einkommen ist entweder eine neue Arbeitsstelle zu suchen oder eine ergänzende Nebentätigkeit aufzunehmen.
Darf ein Unterhaltspflichtiger, der bislang viele Jahre als ungelernte Kraft gearbeitet hat, eine Erstausbildung aufnehmen? Ist der sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenden freien Berufswahl oder der gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern der Vorrang einzuräumen?
Mit dieser Frage hatte sich das OLG Bamberg in seinem Beschluss vom 09.02.2022 -Az. 7 UF 196/21- zu befassen. Folgender Sachverhalt lag zugrunde:
Der Unterhaltsschuldner wurde von seinen beiden minderjährigen Kindern, vertreten durch die Kindesmutter, vor dem Amtsgericht auf Zahlung des Mindestunterhalts in Anspruch genommen. Zu jener Zeit arbeitete der Kindesvater, der über keine Berufsausbildung verfügte, bei einer Leiharbeitsfirma und erzielte ein Einkommen in Höhe des ihm gegenüber minderjährigen Kindern zustehenden Selbstbehalts. Der Kindesvater berief sich daher im gerichtlichen Verfahren darauf, dass er nicht leistungsfähig zur Zahlung von Unterhalt sei. Mit seiner derzeitigen Tätigkeit erfülle er darüber hinaus seine Erwerbsobliegenheit. Eine weitergehende Tätigkeit sei ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten. Von seinem Hausarzt sei ihm bescheinigt worden, dass eine Erwerbstätigkeit über Vollzeit hinaus nicht empfohlen werde. Zudem werde er demnächst eine Ausbildung zum Fachlageristen beginnen und dann nur noch über eine Ausbildungsvergütung in Höhe von knapp 600,00 € verfügen.
Das Amtsgericht verpflichtete den Kindesvater antragsgemäß zur Zahlung des Mindestunterhalts. Gegen den Beschluss legte der Kindesvater Beschwerde zum OLG Bamberg ein. Das OLG verwies zunächst auf die sich aus § 1603 Abs. 2 BGB ergebende gesteigerte Erwerbsobliegenheit und darauf, dass der Unterhaltspflichtige für die ordnungsgemäße Erfüllung dieser Pflicht beweisbelastet ist. Der Unterhaltsschuldner müsse in nachprüfbarer Weise vortragen, welche Schritte er im Einzelnen zur Verbesserung seiner Einkommenssituation unternommen hat. Bei einer behaupteten eingeschränkten Leistungsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen müsse er Art und Umfang der behaupteten Leiden oder Beeinträchtigungen angeben und ferner darlegen, inwieweit die behaupteten gesundheitlichen Störungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. Diesen Anforderungen genügte der Vortrag des Unterhaltsschuldners nicht, so dass das OLG ihm fiktive Einkünfte zurechnete. Allerdings berücksichtigte das OLG, dass neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen stets eine reale Beschäftigungschance gegeben sein muss. Dem Unterhaltspflichtigen dürfe nur das Einkommen fiktiv zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise erzielt werden könne. Hier berücksichtigte das OLG insbesondere, dass der Unterhaltsschuldner als ungelernte Kraft tatsächlich allenfalls etwas mehr als den Mindestlohn verdienen kann. Eine Nebenbeschäftigung (ein oder zweimal in der Woche Zeitungen austragen oder einen Abend in der Woche in der Gastronomie oder als Aushilfe an einer Tankstelle arbeiten), so das OLG weiter, sei dem Kindesvater zuzumuten.
Zu der vom Kindesvater beabsichtigten Erstausbildung äußerte sich das OLG wie folgt: Grundsätzlich sei es unterhaltsrechtlich anerkannt, dass einer Erstausbildung regelmäßig auch gegenüber der gesteigerten Erwerbsobliegenheit der Vorrang einzuräumen sei, da diese zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen gehöre. Allerdings gelte ausnahmsweise etwas anderes, wenn der Unterhaltspflichtige sich in der Vergangenheit über einen Zeitraum von mehreren Jahren stets auf die Ausübung einer ungelernten Tätigkeit beschränkt habe. In einem solchen Fall sei eine Abwägung der Interessen geboten. Es müsse hinterfragt werden, wieso die Erstausbildung gerade jetzt angestrebt wird und was die minderjährigen Kinder- langfristig gesehen- davon haben. Übt jemand über mehrere Jahre eine ungelernte Tätigkeit aus, müsse geprüft werden, ob es dem Unterhaltspflichtigen nicht zuzumuten sei, die nunmehr angestrebte Ausbildung zu verschieben und ihre Aufnahme so lange zurückzustellen, bis die Kinder nicht mehr unterhaltsbedürftig sind.
Da der 45 Jahre alte Unterhaltsschuldner seit vielen Jahren als ungelernte Kraft gearbeitet hatte, wenige Monate nach Verfahrensbeginn beabsichtigte, eine Erstausbildung zu beginnen, dem Gericht aber keinen besonderen Grund nennen konnte, warum die Ausbildung gerade jetzt stattfinden muss, konnte er sich nicht auf sein Recht auf Erstausbildung berufen. Im konkreten Fall räumte das OLG der gesteigerten Unterhaltspflicht den Vorrang ein, rechnete dem Unterhaltspflichtigen fiktive, realistische Einkünfte zu und verpflichtete ihn, einen Unterhaltsbetrag an die beiden gemeinsamen Kinder zu zahlen, der aber unter dem Mindestunterhalt lag.
Die Entscheidung zeigt, dass eine pauschale Aussage, ob eine Erstausbildung des Unterhaltspflichtigen anerkannt wird oder ob die besonderen Interessen minderjähriger Kinder vorrangig zu berücksichtigen sind, nicht möglich ist. Es kommt, wie so oft, auf den konkreten Einzelfall an. Anwaltliche Beratung ist daher unerlässlich.
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